Zell-Extrusion: Neuer potenzieller Mechanismus für Sehverlust entdeckt

Anhand im Labor hergestellter menschlicher Mini-Netzhäute entdeckten Forschende komplexe Ver­än­de­run­gen der Netzhaut, die sogenannte Zell-Extrusion, welche ein potenzieller Mechanismus für neu­ro­de­ge­ne­ra­tive Erkrankungen der Netzhaut darstellen könnte.

Sehzellen in der menschlichen Netzhaut sterben bei einigen Erkrankungen mög­li­cher­weise nicht nur ab, sondern werden zuvor mechanisch aus dem Gewebe befördert. Das fanden Wis­sen­schaft­ler vom Deutschen Zentrum für Neu­ro­de­ge­ne­ra­tive Erkrankungen (DZNE) und vom Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) an der TU Dresden heraus. Für ihre Forschung nutzten sie im Labor hergestellte menschliche Mini-Netzhäute – Organoide. Sie berichteten im Fachjournal „Nature Com­mu­ni­ca­ti­ons“ über ihre Entdeckung, die insbesondere in Zusammenhang mit der alters­be­ding­ten Makula­degeneration (AMD) den Weg für gänzlich neue For­schungs­an­sätze ebnet.

„Dieses Prinzip, das als Zell-Extrusion bezeichnet wird, wurde bislang noch nicht bei neu­ro­de­ge­ne­ra­tiven Erkrankungen untersucht“, sagt Prof. Mike Karl, der die For­schungs­gruppe leitet. AMD ist die Hauptursache für Erblindung und schwere Seh­be­hin­de­rung in Deutschland. Schätzungen zufolge leidet ein Viertel der Menschen über 60 Jahren an AMD. Bei der Erkrankung sterben in der Makula tausende Pho­to­re­zep­to­ren ab.

„Das war der Ausgangspunkt für unser Forschungs­projekt: Wir haben beobachtet, dass Pho­to­re­zep­to­ren verloren gehen, konnten aber in der Netzhaut keinen Zelltod feststellen“, erklärt Karl, der am Dresdner Standort des DZNE und am CRTD tätig ist. „Die Hälfte aller Pho­to­re­zep­to­ren ist innerhalb von zehn Tagen aus dem Netzhaut-Organoid verschwunden, aber offenkundig sind sie nicht in der Netzhaut gestorben. Das hat uns neugierig gemacht.“

Für die Forschenden – beteiligt waren neben dem DZNE und dem CRTD an der TU Dresden auch das Umwelt­for­schungs­zen­trum Leipzig (UFZ) – begann eine aufwendige Fahndung nach den Ursachen. Eine Studie aus dem Jahr 2012 bildete die Grundlage (doi: 10.1038/nature10999): Jody Rosenblatt vom King’s College in London hatte damals erstmals die Extrusion lebender Zellen beschrieben. Die dadurch außen­lie­gen­den Zellen sterben erst dann in Folge ab. Sie wies diesen Mechanismus an einfachen Epithelzellen der Niere nach. Prof. Karl und sein Team zeigten, dass diese Extrusion auch in der viel komplexeren Netzhaut, ausgelöst werden kann und zu Degeneration führt. Schon zuvor fanden Forschende heraus, dass sich bei AMD-Patienten einige Zellen außerhalb der Netzhaut befanden. Die Ursache dafür war bislang allerdings nicht bekannt. Die Zell-Extrusion könnte jetzt die fehlende Erklärung liefern.

Die Wis­sen­schaft­ler machten sich dabei eine zuvor entwickelte Technik zunutze: Die Netzhaut-Organoiden. Diese weisen einige spezifische Merkmale der menschlichen Makula auf. Das Team fand heraus, dass zwei Substanzen die bei verschiedenen neu­ro­de­ge­ne­ra­tiven Erkrankungen zuvor beschrieben wurden -– die Proteine HBEGF und TNF – ausreichen, um eine Degeneration im Netzhaut-Organoid auszulösen.

Während dieses Prozesses filmten die Forschenden die Organoide in Echtzeit; das sogenannte Live-Imaging gilt als Goldstandard, um Ver­än­de­run­gen von Zellen zu verfolgen. „Wir konnten die Degeneration von Pho­to­re­zep­to­ren durch die Zell-Extrusion im Labor aufzeichnen“, sagt der For­schungs­gruppenleiter. Die Wis­sen­schaft­ler entdeckten, dass diese Extrusion durch Aktivierung des Proteins PIEZO1 ausgelöst wird, einem Sensor für bio­me­cha­ni­sche Kräfte.

Dass die Biomechanik mög­li­cher­weise eine größere Rolle bei der Degeneration der Netzhaut spielen könnte, ist eine neue Erkenntnis. „Die Netzhaut ist nicht als biomechanisch aktives Gewebe wie etwa ein Muskel bekannt. Man wusste, dass Erkrankungen im Nervensystem mit Form­ver­än­de­run­gen von Zellen einhergehen, aber inwieweit sie von bio­me­cha­ni­schen Kräften reguliert werden, wurde bislang noch nicht untersucht“, so Karl. Dank der Organoide konnte das Team die Prozesse im Zeitraffer beobachten: Während es bei AMD -Patienten mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte dauert, bis Pho­to­re­zep­to­ren verschwinden, konnte dieser Prozess im Labor in nur 40 Tagen nachvollzogen werden. Im nächsten Schritt wollen die Forschenden untersuchen, ob dieser Mechanismus in der Netzhaut von Patienten genauso auftritt. Erste Daten und viele inhaltliche Über­ein­stim­mun­gen legen  das nahe.

Darüber hinaus konnte das Dresdner Forscherteam die Extrusion unter Labor­be­din­gun­gen im Modell verhindern: Mit einem speziellen Schlangengift blockierten sie den Mechanosensor PIEZO1 auf den Zellen. In Folge wurden die Ausstoßung der Pho­to­re­zep­to­ren und auch weitere krankhafte Ver­än­de­run­gen in der Netzhaut verhindert. „Das macht Hoffnung auf die Entwicklung künftiger präventiver und the­ra­peu­ti­scher Behandlungen für komplexe neu­ro­de­ge­ne­ra­tive Erkrankungen wie der AMD“, bilanziert Prof. Karl.

Quelle: biermann-medizin.de

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