SARS-CoV-2 geht ins Auge

SARS-CoV-2 verursacht nicht nur Infektionen der Atemwege. Es kann auch in die Netzhaut gelangen und Schäden anrichten. Unklar ist, welche Netz­haut­struk­tu­ren infiziert werden und ob die Schäden direkt oder indirekt Folge einer Infektion sind. Ein Team um Thomas Rauen und Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin und dem Virologen Stephan Ludwig der West­fä­li­schen Wilhelms-Universität hat nun menschliche Netzhaut-Organoide verwendet, um die SARS-CoV-2 Infektion der Netzhaut zu untersuchen. Demnach werden vor allem retinale Gan­gli­en­zel­len, aber auch Licht­sin­nes­zel­len infiziert. Zudem zeigen die Forscher, dass sich Coronaviren in diesen Zelltypen sogar vermehren können.

Dass das von Yotam Menuchin-Lasowski am münsterschen Max-Planck-Institut etablierte menschliche Orga­noid­mo­dell der Netzhaut in der Erforschung von SARS-CoV-2 Anwendung finden würde, hätte der Wis­sen­schaft­ler vor gut drei Jahren nicht gedacht. Damals begann der Wis­sen­schaft­ler mit der Arbeit an dem Modellsystem, das auf menschlichen repro­gram­mier­ten Stammzellen basiert, als Teil des von der Max-Planck-Gesellschaft geförderten White Paper Projektes “Brain Organoids: Alternatives to Animal Testing”.

Als immer mehr Fälle von neu­ro­lo­gi­schen Beein­träch­ti­gun­gen und auch Sehstörungen während oder nach einer Corona-Infektion durch die Medien gingen, schien es den Max-Planck-Forschern nur logisch, Netz­h­au­t­or­ga­no­ide für Unter­su­chun­gen zu SARS-CoV-2 in der Netzhaut einzusetzen. Denn verschiedene Studien an Retina-Biopsien von mehreren Patienten, die an COVID-19 gestorben waren, konnten das Virus in der Netzhaut nachweisen.

Tatsächlich erweist sich nun das Retina-Organoid-Modell als relevante Alternative zu Tierversuchen, da sich SARS-CoV-2-Infektionen beim Menschen nicht oder nur unzulänglich im Tiermodell nachbilden lassen. „Unser Retina-Orga­no­id­sys­tem bildet die anatomisch komplexe Struktur der menschlichen Netzhaut erstaunlich gut nach“, sagt Yotam Menuchin-Lasowski.

Als Aus­gangs­zell­typ für die Netz­h­au­t­or­ga­no­ide wurden menschliche iPS-Zellen verwendet. Das sind Zellen, die aus Biopsien gewonnen und zu künstlich induzierten Stammzellen umpro­gram­miert wurden. „In vier bis fünf Monaten entstehen aus den iPS-Zellen unter geeigneten Kul­tur­be­din­gun­gen ausgereifte Retina-Organoide, in denen sich die verschiedenen Zelltypen in Netzhaut-typischer Weise anordnen“, sagt Menuchin-Lasowski.

Die ausgereiften Netz­h­au­t­or­ga­no­ide wurden von André Schreiber und Stephan Ludwig vom Institut für Molekulare Virologie der West­fä­li­schen Wilhelms-Universität Münster in einem Sicher­heits­la­bor der Schutzstufe 3 mit SARS-CoV-2 Viren inkubiert und anschließend nach festgelegten Inku­ba­ti­ons­zei­ten analysiert. So gelang den Forschern mittels quantitativer PCR-Analyse der Nachweis von SARS-CoV-2 mRNA in den Organoiden, was darauf hindeutet, dass Zellen in den Organoiden tatsächlich vom Virus infiziert wurden.

Um darüber hinaus die aktiven Virus­kon­zen­tra­ti­o­nen zu messen, die von den infizierten Organoiden nach verschiedenen Inku­ba­ti­ons­zei­ten produziert wurden, verwendeten die Wis­sen­schaft­ler einen sogenannten viralen Plaque-Assay. Und tatsächlich: dieser Test zeigte, dass sich in den Retina-Organoiden neue Virus­nach­kom­men gebildet hatten.

„Dies ist der erste Nachweis, dass sich SARS-CoV-2 in menschlichen Netz­haut­zel­len repliziert“, sagt Thomas Rauen, der mit Hans Schöler die White Paper Projektgruppe “Brain Organoids: Alternatives to Animal Testing” leitet. „Unser von der MPG gefördertes Projekt hat jetzt Früchte getragen“, freut sich Thomas Rauen.

Um zu erfahren, welche Zellen in den Retina-Organoiden betroffen sind, analysierten die Forscher die Organoide im Flu­o­res­zenz­mi­kro­skop. Mithilfe verschiedener Immunmarker für die unter­schied­lichen Zelltypen der Netzhaut und mit einem flu­o­res­zie­ren­den Antikörper gegen das Nucleoprotein (N-Protein) von SARS-CoV-2 zeigte sich, dass haupt­säch­lich zwei Zellschichten der Retina-Organoide infiziert wurden.

„Zum einen befanden sich viele der N-Protein-angefärbten Zellen in der äußeren Kör­ner­schicht der Organoide,“ sagt Yotam Menuchin-Lasowski. Das ist die Zellschicht, in der sich die Pho­to­re­zep­to­ren befinden – also die Zapfen und Stäbchen, die das eintreffende Licht in Nervenimpulse umwandeln. „Einige dieser Zellen mit dem N-Protein wiesen tatsächlich das typische Aussehen der Licht­sin­nes­zel­len auf“, ergänzt er.

„Der Zelltyp, in dem wir jedoch am häufigsten das N-Protein von SARS-CoV-2 nachweisen konnten, sind retinale Gan­gli­en­zel­len“, sagt Menuchin-Lasowski. Diese Zellen befinden sich in der innersten Schicht der Retina und geben alle Signale von der Netzhaut über den Sehnerv ins Gehirn weiter.

Inter­es­san­ter­weise hängen viele der mit COVID-19 assoziierten Netz­haut­sym­ptome mit retinalen Gan­gli­en­zel­len zusammen, die bisher allerdings vorwiegend mit sekundären Auswirkungen anderer SARS-CoV-2-verursachter Krank­heits­sym­ptome in Verbindung gebracht wurden, wie z. B. Schäden an den Blutgefäßen oder einer Erhöhung des Augendrucks.

„Unsere aktuelle Retina-Organoid Studie zeigt jedoch, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 direkte pathologische Folgen für die retinalen Gan­gli­en­zel­len haben kann, auch wenn Seh­behinder­ungen bei Patienten mit COVID-19 nicht häufig vorkommen“, sagt Thomas Rauen. „Doch unsere Daten geben uns Grund zur Annahme, dass sogenannte Long-COVID-Symptome degenerative Erkrankungen der Netzhaut einschließen können.“

Hans Schöler, der als Emeritus die MPG White Paper For­schungs­gruppe zusammen mit Thomas Rauen leitet, sagt: „Hier zeigt sich das volle Potential der Orga­noid­for­schung: Retina-Organoide eignen sich besonders gut für die Untersuchung von Netz­haut­pa­tho­lo­gien. Durch die fruchtbare inter­dis­zi­pli­näre Zusam­me­n­a­r­beit mit der Abteilung von Stephan Ludwig konnten wir Einblicke in die Netz­haut­be­tei­li­gung bei COVID-19 und mög­li­cher­weise auch bei Long-COVID gewinnen.“

Quelle: biermann-medizin.de

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