Arzneimittel und Netzhaut: Netzhautdegeneration und die Einnahme anderer Medikamente
„Bestehen bei meiner Netzhautdegeneration Bedenken gegen die Einnahme des Medikamentes XY, das mir mein Hausarzt (oder Facharzt) wegen einer anderen Erkrankung verschrieben hat?“
Solche oder ähnliche Anfragen gehen immer wieder auf unterschiedlichen Wegen bei PRO RETINA ein. Unsere ehrenamtlich tätigen augenärztlichen Berater, die über langjährige Erfahrung in der Betreuung von Netzhautpatienten und über fundierte Literaturkenntnisse verfügen, haben sich wiederholt mit dieser Problematik befasst, zum Beispiel im Rahmen der Beratungen des Arbeitskreises Klinische Fragen (AKF) der PRO RETINA. Bei diesen Beratungen zeigte sich, dass es leider nur in sehr begrenztem Umfang wissenschaftlich fundierte, klare Antworten auf solche Fragestellungen gibt.
Netzhaut- bzw. Sehnervschäden: gesichert nur bei wenigen Arzneimitteln
Für wenige Arzneimittel ist gesichert, dass sie die Netzhaut oder den Sehnerv schädigen können. Dazu gehören beispielsweise Chloroquin beziehungsweise Hydroxychloroquin, die zur Malariaprophylaxe oder in bestimmten Situationen bei der Behandlung immunologischer Erkrankungen eingesetzt werden, oder auch das Tuberkulosemittel Ethambutol. Für einige andere Arzneimittel gibt es zwar ernst zu nehmende Hinweise auf mögliche Schädigungen von Netzhaut oder Sehnerv, ein eindeutiger Zusammenhang ist aber letztlich nicht ausreichend gesichert.
Größere Datenlage zu allgemeinen Sehstörungen
Sehr viel größer ist dagegen die Zahl der Arzneimittel, bei denen ganz allgemein "Sehstörungen" im Beipackzettel als mögliche Nebenwirkungen aufgeführt werden. Unter einer "Nebenwirkung" versteht man in diesem Zusammenhang eine bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eines Arzneimittels auftretende, unerwartete, schädliche Reaktion. Bei vielen solcher "Sehstörungen" handelt es sich jedoch um eher unspezifische Symptome wie Verschwommensehen, ein Schleiersehen, Schwarzwerden vor den Augen oder ähnliches. Solche unspezifischen Sehstörungen treten in großen Studien nicht nur bei Patienten auf, die das zu prüfende Arzneimittel erhalten, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch bei Patienten in der Kontrollgruppe, ebenso wie auch in der gesunden Normalbevölkerung. Außerdem werden viele unter Medikamenteneinnahme auftretende "Sehstörungen" über das vegetative Nervensystem vermittelt, stehen also nicht in Zusammenhang mit einer eventuell vorgeschädigten Netzhaut.
Darüber hinaus müssen auch die Angaben über die Häufigkeit von Nebenwirkungen eines Arzneimittels im Beipackzettel beachtet werden. Sie geben ein statistisches Risiko für das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen an, gestatten aber natürlich keine Vorhersage im Einzelfall. So bedeutet beispielsweise die Häufigkeitsangabe "gelegentlich"
im Beipackzettel eines Medikamentes, dass die genannte unerwünschte Wirkung bei 1 bis 10 Patienten von 1.000 Anwendern auftritt, was einer Wahrscheinlichkeit von 0,1 bis 1 Prozent entspricht (mehr hierzu unter "Bedeutung der Häufigkeitsangaben in Beipackzetteln zu Arzneimittelnebenwirkungen").
Sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung
So bleibt letztlich vor Einleitung einer medikamentösen Behandlung vor allen Dingen eine sorgsame Nutzen-Risiko-Abwägung zu treffen zwischen dem erwartbaren Nutzen einer Arzneimitteltherapie der zur Debatte stehenden, mitunter schwerwiegenden Erkrankung einerseits und dem Risiko einer möglichen schädlichen Wirkung auf die begleitende Netzhautdegeneration andererseits. Dazu ist es vor allem wichtig, dass der Haus- oder Facharzt, der ein Arzneimittel verschreiben will, von einer begleitenden Netzhautdegeneration weiß und dies in seine Überlegungen und seine Empfehlung einbezieht. In besonders unsicheren Situationen kann auch eine direkte Kontaktaufnahme zwischen dem das Medikament verordnenden Haus- oder Facharzt und dem die Netzhautdegeneration betreuenden Augenarzt notwendig werden. Dabei kann dann auch diskutiert werden, ob eventuell andere Arzneimittel mit günstigerem Risikoprofil oder nicht-medikamentöse Therapiealternativen zur Verfügung stehen.
Nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung kann so idealerweise eine von Arzt und Patienten gemeinsam getragene Entscheidung für oder gegen eine medikamentöse Behandlung getroffen werden. Umgekehrt ist es aber auch für den Augenarzt wichtig, vor bestimmten Maßnahmen, etwa vor einer geplanten Kataract-Operation (Grauer Star), über die Einnahme von Medikamenten wegen anderweitiger Erkrankungen informiert zu sein.
Augensymptome während der Behandlung
Wenn während einer Arzneimittelbehandlung Augensymptome auftreten, die an eine unerwünschte Arzneimittelwirkung denken lassen, sollte das Medikament nicht eigenmächtig vom Patienten abgesetzt werden. Denn bei einigen Arzneimitteln, zum Beispiel bei der Behandlung von epileptischen Anfallsleiden oder von bedrohlichen Herzrhythmusstörungen, könnte ein abruptes Absetzen selbst schwerwiegende Folgen haben. Wichtig zu wissen ist auch, dass Schädigungen von Netzhaut oder Sehnerv durch Arzneimittel praktisch nie schon zu Beginn der Medikamenteneinnahme auftreten, sondern meist einige Wochen oder Monate benötigen.
So kommt also, wie in vielen Lebensbereichen, dem "überhaupt Darandenken", einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung und nicht zuletzt der Kommunikation zwischen Arzt und Patient und gegebenenfalls auch der behandelnden Ärzte untereinander eine besondere Bedeutung zu.
Bedeutung der Häufigkeitsangaben in Beipackzetteln zu Arzneimittelnebenwirkungen
* Sehr häufig: mehr als 1 Behandelter von 10 (> 10 Prozent)
* Häufig: 1 bis 10 Behandelte von 100 (
* Gelegentlich: 1 bis 10 Behandelte von 1.000 (1 bis 0,1 Prozent)
* Selten: 1 bis 10 Behandelte von 10.000 (0,1 bis 0,01 Prozent)
* Sehr selten: weniger als 1 Behandelter von 10.000 (
* Nicht bekannt: Häufigkeit auf Grundlage der verfügbaren Daten nicht abschätzbar
Seltene und sehr seltene Nebenwirkungen machen sich erst ab einer höheren Zahl von Anwendungen (Einnahmedauer, Patientenzahl) bemerkbar. Aus statistischen Gründen müssen zum Beispiel für Nebenwirkungen mit einer Häufigkeit von 1:1 Million etwa sechs Millionen Anwendungen beobachtet werden. Dadurch besteht bei neuen oder wenig verbreiteten Arzneimitteln ein erhöhtes Risiko für bis dahin unbekannte Nebenwirkungen.
Quelle: PRO RETINA Deutschland e. V..