Gentherapie bei Netz­haut­degenera­tion: Was ist heute möglich? Wie geht es weiter?

Mithilfe der Gentherapie möchten Augenärzte Patienten helfen, deren Augenlicht aufgrund eines Gendefektes bedroht ist. 2017 wurde das erste Medikament zugelassen, mit dem eine genetisch bedingte Augen­krank­heit behandelt wird.

Hoffnung durch Gentherapie

Es ist selten, doch es kommt vor: Ein Kind wird mit einem Gendefekt geboren, der dazu führt, dass es schon früh erblindet. Bisher mussten sich die betroffenen Familien damit abfinden und Strategien entwickeln, mit denen diese Kinder ihr Leben auch ohne Augenlicht meistern können. Augenärzte waren machtlos. Mithilfe der Gentherapie möchten sie künftig den Betroffenen helfen: Eine Injektion unter die Netzhaut sorgt dafür, dass Kopien des gesunden Gens in die erkrankten Zellen des Auges “eingebaut” werden. Das Ziel: Ein Mensch, der sonst unweigerlich erblindet wäre, behält sein Augenlicht.

Erstes Medikament

Das erste Medikament, mit dem der „Einbau“ gesunder Gene bei einer seltenen Auge­n­er­kran­kung gelingen soll, so erinnert Dr. Philipp Herrmann, Leiter der Sprechstunde für seltene Netz­haut­erkrankungen an der Uni­ver­si­täts­au­gen­kli­nik Bonn, sei im Jahr 2017 auf den Markt gekommen. Der Wirkstoff Voretigene neparvovec sei zur Behandlung von Netz­haut­dystro­phien durch Mutationen im RPE65-Gen zugelassen. Diese Krankheit treffe etwa einen von 200.000 Menschen. Erst vor zwei Jahrzehnten, im Jahr 1997, hatten Forscher entdeckt, dass Mutationen im RPE65-Gen zu einer im Kindesalter beginnenden Netz­haut­erkrankung führen, welche auch als Leber‘sche kongenitale Amaurose (LCA) bezeichnet wird. Die Mutationen sorgen für Ver­än­de­run­gen bei einem Enzym, das für die Erneuerung des Rhodopsins (eines der Sehfarbstoffe in der Netzhaut) wichtig ist. In der Folge sterben die Zellen der Netzhaut ab. Die Betroffenen zeigen schon in der frühen Kindheit Zeichen der Krankheit und klagen über Dun­kel­seh­pro­bleme, wobei das Spektrum der Erkrankung sehr breit ist und manche Erkrankten noch bis ins Erwach­se­ne­n­al­ter eine gut erhaltene zentrale Sehfunktion aufweisen. „Die vor zwei Jahren zugelassene Behandlung gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Patienten zumindest ein gewisses Sehvermögen behalten – allerdings fehlen noch Erfahrungen, ob der Erfolg der Therapie auch langfristig, über viele Dekaden anhält“, betont Herrmann.

Beispielhafte Entwicklung

Für Wis­sen­schaft­ler machten einige Umstände die LCA besonders interessant, um die Entwicklung einer Gentherapie beispielhaft zu testen: Nur ein einziger Gendefekt muss “repariert” werden, was es leichter macht, ein Medikament dafür zu entwickeln. Zudem geschieht die Behandlung im Augeninneren, das für die Ärzte leicht zugänglich ist. „Nur wenig Flüssigkeit muss hierfür unter die Netzhaut injiziert werden, und das Risiko, dass das Medikament das Auge verlässt und im Körper zirkuliert, ist sehr gering“, berichtet Herrmann. Auswirkungen auf den gesamten Körper seien daher kaum zu befürchten. Hinzu komme eine besondere Eigenschaft des Auges, sein “Immunprivileg”, aufgrund dessen keine Abwehr­re­ak­ti­o­nen einträten.

Viren als “Gentaxis”

Um das Medikament zu den Zielzellen zu bringen, ist zunächst eine Vitrektomie (Entfernung des Glaskörpers) nötig. Unter sterilen Bedingungen findet anschließend eine Injektion ins Innere des Auges statt. Das Procedere dauert nur circa eine halbe Stunde. „Bei dem Medikament handelt es sich um speziell programmierte Viren, die als ‚Gentaxis‘ ins Auge geschickt werden“, erläutert Herrmann. „Im Labor werden dafür Adeno-assoziierte Viren (AAV) entwickelt, in die das gesunde Gen verpackt wird. Die Viren schleusen dieses korrekte Gen direkt in die Zielzelle, das retinale Pig­men­te­pi­thel, um so dauerhaft ihr Überleben zu ermöglichen.“

Erfolg ein Jahr nach der Behandlung war Grundlage für die Zulassung

Für die Zulassung des Medikamentes – der ersten Gentherapie am Auge, die jemals auf den Markt kam – war eine Studie mit nur 31 Patienten aus­schlag­ge­bend. Da die Erkrankung so selten ist, sind große Studien, wie man sie von anderen Medikamenten kennt, nicht möglich. 21 der Stu­dien­teil­neh­mer erhielten die neue Behandlung, zehn weitere Patienten dienten als Kon­troll­gruppe. Untersucht wurde, wie die Patienten ein Jahr nach der Behandlung in einem speziellen Test abschnitten, dem “multi-luminance mobility test” (MLMT). Dabei durchlaufen die Teilnehmer einen Parcours mit unter­schied­lichen Hindernissen bei verschiedenen Licht­ver­hält­nis­sen.

Zusätzlich wurden die Sehschärfe und viele weitere Parameter der Patienten kontrolliert. Die behandelten Patienten meisterten den Parcours nach einem Jahr deutlich besser als die Patienten der unbehandelten Kon­troll­gruppe. Auch die Sehschärfe war nach der Behandlung besser als bei den nicht behandelten Patienten. Schwer­wie­gende Neben­wir­kun­gen der Therapie traten nicht auf.

„Damit konnte bewiesen werden, dass die Gentherapie wirkt. Ob der Effekt auch langfristig anhält, ist allerdings noch abzuwarten, dafür ist die Behand­lungs­me­thode noch zu neu“, gibt Herrmann zu bedenken. Zu wünschen sei, dass die Patienten für den Rest ihres Lebens von dieser einmaligen Injektion profitieren.

Her­aus­for­de­rung für das Gesund­heits­sys­tem

Der Preis, den das Gesund­heits­sys­tem für die Behandlung zu zahlen hat, sei hoch, räumt Herrmann ein: 345.000 Euro für jede einzelne Injektion. Diese Kosten recht­fer­tig­ten eine hohe Erwartung und stellten eine Her­aus­for­de­rung für jedes Gesund­heits­sys­tem dar – zumal weiterhin neue, zum Teil noch wesentlich teurere Gentherapien auf den Markt kommen würden. Als Recht­fer­ti­gung für den hohen Preis verwiesen die Hersteller auf die aufwendige Entwicklung und die meist geringe Zahl an Patienten.

Vorbild für weitere Medikamente

„Es ist zu hoffen, dass nach dem Vorbild der ersten Gentherapie weitere Medikamente entwickelt werden, die bei anderen erblichen Augen­erkrankungen eingesetzt werden können“, meint Herrmann. Bei­spiels­weise werde derzeit eine Gentherapie für die Krankheit Choroideremie entwickelt. Diese Krankheit werde durch eine Gen­ver­än­de­rung auf dem X-Chromosom hervorgerufen und trete, da Männer nur ein X-Chromosom haben, fast nur bei Männern auf. Betroffen sei etwa ein Mensch von 50.000.

Gentherapie gegen die feuchte AMD?

Ein etwas anderes Ziel verfolgt eine weitere Neu­ent­wick­lung, die sehr vielen Patienten zugutekommen könnte: In ersten Studien wird untersucht, ob sich eventuell auch die feuchte Alters­abhängige Makula­degeneration (AMD) mit einer Gentherapie behandeln lässt. Bisher erhalten Patienten mit dieser Auge­n­er­kran­kung immer wieder Medi­ka­men­ten­ga­ben ins Auge, um die Erblindung zu verhindern. Herrmann: „Mit einer Gentherapie, so der neue Ansatz, könnten die Netz­haut­zel­len so verändert werden, dass sie selbst einen Wirkstoff produzieren. In das Erbgut der Zellen wird eine neue DNA-Sequenz eingebaut.

In der Folge produziert die Zelle einen dem Aflibercept (ein Wirkstoff aus der Gruppe der VEGF-Inhibitoren) ähnlichen Wirkstoff.“ Eine erste klinische Studie mit betroffenen Patienten habe bereits stattgefunden. Falls sich das Konzept bewähren sollte, müssten Patienten künftig nur noch einmal behandelt werden und nicht alle paar Wochen eine Injektion erhalten.

Der orga­ni­sa­to­ri­sche Aufwand und die Belastung für die Betroffenen ließen sich damit deutlich verringern.

Ausblick

Zusam­men­fas­send zieht Hermann das folgende Fazit: „Die erste zugelassene Gentherapie am Auge gibt Patienten mit einer seltenen, genetisch bedingten Auge­n­er­kran­kung Hoffnung: Mit einer einmaligen Behandlung wird der Gendefekt in den Netz­haut­zel­len „repariert“ und so die Degeneration der licht­emp­find­li­chen Schicht im Auge gestoppt. Nach dem Vorbild dieser neuartigen Behandlung sollen nun auch Therapien für andere erbliche Augen­erkrankungen entwickelt werden. Ein weiterer Ansatz zielt darauf ab, dass im Auge selbst Wirkstoffe produziert werden – etwa gegen die feuchte Form der AMD. Gentherapien sind ein neues, noch junges Behand­lungs­kon­zept, das allmählich seinen Weg in die Gesund­heits­ver­sor­gung findet. Damit verbunden sind hohe Kosten, die eine erhebliche Her­aus­for­de­rung für das Gesund­heits­sys­tem darstellen.“

Quelle: PRO RETINA News, Wolfgang Schmidt

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