Wenn die Diagnose am Rechner stattfindet
Pilotprojekt zeigt telemedizinische Lösungen für Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeeinrichtungen auf.
Die Über-80-Jährigen sind in Bezug auf Augenerkrankungen eine Hochrisikogruppe. Krankheiten wie der graue Star (Katarakt), der die Sehkraft akut einschränkt, zeigen eine deutliche Altersabhängigkeit. Dasselbe gilt für das Glaukom oder die altersabhängige Makula-Degeneration (AMD), die zu einem permanenten Sehverlust führen können. Die augenärztliche Versorgung von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeeinrichtungen verdient daher besondere Aufmerksamkeit, findet jedoch nicht in ausreichendem Umfang statt. Wie telemedizinische Ansätze helfen können, die ophthalmologische Versorgung von älteren Menschen zu verbessern und dem Sehverlust entgegenzuwirken, war ein Thema auf der Pressekonferenz des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. (DBSV) in Kooperation mit der BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen anlässlich der 4. Fachtagung „Sehen im Alter“.
Regelmäßige ophthalmologische Untersuchungen finden in Pflegeeinrichtungen meist nicht statt – und die Bewohnerinnen und Bewohner sind oft nicht mobil genug, um sich ihrerseits in die augenärztliche Praxis zu begeben. „Auf diese Versorgungslücke, die sich im Zuge des demografischen Wandels vermutlich noch vergrößern wird, haben in den letzten Jahren mehrere Studien hingewiesen“, sagt Dr. Leon von der Emde von der Universitäts-Augenklinik Bonn (Direktor: Professor Dr. F. G. Holz), der das Thema auf der Pressekonferenz vorstellen wird. Bereits heute sei die Tragweite des Problems bei einer Zahl von knapp 800.000 älteren Menschen, die in rund 13.600 Pflegeeinrichtungen in Deutschland leben, beträchtlich.
In einer eigenen Studie hat von der Emde nun untersucht, welche Möglichkeiten die Telemedizin bietet, um die Früherkennung gravierender Augenerkrankungen in Seniorenheimen zu verbessern. In Kooperation mit drei Pflegeeinrichtungen in Bonn nahm hierzu speziell geschultes, aber nicht-augenärztliches Personal verschiedene Augenuntersuchungen vor. In eigens ausgestatteten Untersuchungszimmern konnten neben der Sehschärfe auch ein Amsler-Gitter-Test, eine Augeninnendruckmessung, eine Spaltlampenuntersuchung, eine optische Kohärenztomographie (OCT) des Augenhintergrundes und eine Refraktometrie durchgeführt werden. „Mit diesen Verfahren können der aktuelle Status von Sehleistung und gegebenenfalls vorhandener Sehhilfe sowie die wichtigsten Augenerkrankungen und Risikofaktoren erfasst werden“, erläutert von der Emde. Die Untersuchungen konnten bei fast allen Teilnehmenden auch ohne fachärztliche Anwesenheit erfolgreich vorgenommen werden: Eine Sehschärfenbestimmung war in knapp 90 Prozent der Fälle möglich, eine Befundung des vorderen Augenabschnitts in 92,7 Prozent und eine Messung des Augeninnendrucks in 100 Prozent der Fälle. Die Aufnahme von Netzhautbildern gelang ebenfalls bei knapp 90 Prozent der Teilnehmenden, und die Bildqualität war hoch.
Die Untersuchungsergebnisse wurden pseudonymisiert an die Universitätsklinik Bonn übermittelt und dort augenärztlich befundet. „Dabei zeigte sich, dass über 60 Prozent der Brillen nicht adäquat angepasst waren, dass fast jeder zweite Bewohner einen grauen Star hatte, der die Sehkraft einschränkte, und dass fast jeder Vierte AMD-typische Veränderungen aufwies“, fasst von der Emde die Ergebnisse zusammen. Zugleich sei auch ein erheblicher Informationsmangel festgestellt worden: Nur 31,2 Prozent der Seniorinnen und Senioren waren über ihre Diagnosen und den daraus resultierenden Behandlungsbedarf ausreichend informiert. Besonders ausgeprägt war die Unterversorgung bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit höherem Pflegegrad und mit längerer Aufenthaltsdauer in den Pflegeheimen. In diesen Gruppen war der Anteil der Personen, die keine regelmäßigen Augenuntersuchungen wahrnahmen, am höchsten. Auch wiesen sie ein deutlich schlechteres Sehvermögen auf.
„Diese Risikofaktoren zu kennen, ist ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren Versorgung“, sagt Privatdozent Dr. med. Thomas Ach, Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor der Universitäts-Augenklinik Bonn. Die zentrale Erkenntnis aus der Studie sei jedoch, dass sich diagnostische Barrieren in Pflegeheimen effektiv abbauen ließen, wenn eine Untersuchung durch geschultes Personal vor Ort mit einer teleophthalmologischen Befundung kombiniert werde. Gezielte Therapien wie eine Katarakt-Operation oder eine Brillenanpassung ließen sich dann zeitnah einleiten. Höhere Hürden bestünden jedoch bei der Therapie der AMD: Hier sei eine wirksame, das Augenlicht erhaltende Behandlung mit regelmäßigen Injektionen in das Auge verbunden, die jeweils einen Besuch in der augenärztlichen Praxis erforderten. Angesichts von Mobilitätseinschränkungen und Fachkräftemangel bleibe dies eine Herausforderung, die nicht leicht zu bewältigen sei. Ein Antrag für ein Projekt, das diese Probleme angeht, ist kürzlich beim Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschuss eingereicht worden.
Terminhinweis:
4. Fachtagung „Sehen im Alter“: Verständnis verbessern, Versorgung verbessern, Sehen verbessern
14./15. Juni 2024, Gustav-Stresemann-Institut e. V., Langer Grabenweg 68, 53175 Bonn
Quelle: DBSV, Pressestelle Fachtagung "Sehen im Alter"